Zu Beginn einer Schwangerschaft wäre es wünschenswert, Patientinnen mit einem bisher nicht diagnostizierten vorbestehenden Diabetes mellitus zu identifizieren. HBA1c wird ein hoher Nutzen in der Entdeckung von solchen Patientinnen zugeschrieben. Deshalb soll bei Risikofaktoren eine Bestimmung zur Abklärung einer Glukosestoffwechselstörung angeboten werden. Dies stellt jedoch keine Kassenlesitung dar sondern eine individuelle Gesundheitsleistung (
IGel).
Als bedeutendste bekannte Risikofaktoren gelten:
• Familiäre Diabeteserkrankungen insbesondere bei Verwandten 1. oder 2. Grades
• Herkunft aus dem asiatischen Raum
• Mütterliches Alter von 35 Jahren oder älter
• Übergewicht und Adipositas (BMI vor der Schwangerschaft über 27)
• Ovulationsinduktion im Rahmen einer Sterilitätstherapie
• Mehr als drei Fehlgeburten unbekannter Ursache in der Vorgeschichte
• Frühere Entbindung mit einem Geburtsgewicht des Kindes über 4.500 Gramm
• Frühere Schwangerschaft mit einem Gestationsdiabetes mellitus (GDM)
HBA1c-Werte unter 5,9 % gelten als unauffällig. Bei Werten zwischen 5,9 und 6,5 % soll ein sogenannter oraler Glukosetoleranztest zur weiteren Diagnostik durchgeführt werden, bei Werten darüber gilt ein Diabetes als sicher.
Die folgenden Informationen betreffen nur Frauen mit schon vor der Schwangerschaft bekannten Typ-1- und Typ-2-Diabetes. Schwangerschaften von Diabetikerinnen sind Hochrisiko-Schwangerschaften und bedürfen einer gemeinsamen Betreuung durch spezialisierte Diabetologen, Geburtsmediziner und Neonatologen in enger Kooperation mit Hebammen, Augenärzten und anderen Fachgebieten.
Definition:
Der Diabetes mellitus ist definiert als eine durch den Leitbefund chronisch erhöhter Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie) charakterisierte Regulationsstörung des Stoffwechsels. Die Regulation der Blutzuckerkonzentration (Glukose) im Blut erfolgt durch einen Regelkreis aus zwei Hormonen, die in Abhängigkeit von der Glukosekonzentration ausgeschüttet werden. Das Insulin ist das einzige Hormon, das den Blutzuckerspiegel senken kann. Sein Gegenspieler ist das Glukagon, dessen Hauptaufgabe es ist, den Blutzuckerspiegel zu erhöhen. Bei Diabetes mellitus liegt entweder eine gestörte Insulinsekretion oder eine verminderte Insulinwirkung oder auch beides zugrunde. Die chronische Hyperglykämie führt über die diabetesspezifische Erkrankung der kleinen Blutgefäße (Mikroangiopathie) zu Folgeerkrankungen, vorwiegend an Augen, Nieren und Nervensystem, und über die diabetesassoziierte Erkrankung der grösseren Schlagadern (Makroangiopathie) zu Folgeerkrankungen vorwiegend an Herz, Gehirn und den peripheren Arterien.
Veränderungen des Kohlenhydratstoffwechsels in der Schwangerschaft:
Die Schwangerschaft ist generell durch eine diabetogene Stoffwechsellage
charakterisiert. Ein Anstieg der Glukosekonzentration im mütterlichen Blut wird aber weitgehend durch eine vermehrte Insulinausschüttung sowie durch die Glukoseabgabe an den Fetus kompensiert. In den ersten Monaten der Schwangerschaft sinkt die Konzentration an Nüchternblutglukose aufgrund einer erhöhten Insulinempfindlichkeit in der Regel sogar ab. Die zunehmende charakteristische Insulinresistenz führt ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel zu einem Anstieg der Blutzuckerwerte.
Am Tag der Entbindung fällt wegen des vermehrten Glukoseverbrauchs mit Einsetzen der Wehentätigkeit der Blutzuckerspiegel wieder ab. Nach der Entbindung entspricht die Stoffwechsellage rasch wieder der Situation vor der Schwangerschaft.
Insulintherapie:
Insulin
ist die einzige
gut untersuchte Pharmakotherapie
bei Schwangerschaften mit manifestem Diabetes. Schwangere mit Typ-2-Diabetes müssen daher bereits vor der Schwangerschaft oder sofort nach Feststellung der Schwangerschaft von oralen Antidiabetika auf Insulin eingestellt werden, sofern eine Ernährung ohne schnell resorbierbare Kohlenhydrate nicht ausreicht. Die intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) oder bei entsprechender Indikation die kontinuierliche subkutane Insulinfusion (CSII) mittels Insulinpumpe sind die Insulinstrategien der Wahl und vom Ergebnis her gleichwertig. Bei der ICT wird der basale Insulinbedarf (Basis) durch ein Verzögerungsinsulin gedeckt. Zusätzlich wird zu den Mahlzeiten die passende Menge kurzwirksames Insulin gespritzt (Bolus). Von besonderer Bedeutung für das kindliche Wachstum, dessen Geburtsgewicht und damit für perinatale Risiken sind die Blutglukosewerte nach den Mahlzeiten. Limitiert wird die straff normale Einstellung durch das mütterliche Risiko der Unterzuckerung
(Hypoglykämie). Daher müssen individuelle Zielvereinbarungen bei gehäuften schweren Hypoglykämien oder besonderen Lebensumständen getroffen werden. Zwischen der 8. und 15. Schwangerschaftswoche ist das Risiko für mütterliche Hypoglykämien besonders hoch, weswegen in dieser Zeit oft eine vorsichtige Reduktion des Insulinbedarfs und besonders häufige Blutglukoseselbstmessungen erfolgen müssen. Der Insulinbedarf steigt im zweiten Schwangerschaftsdrittel beginnend kontinuierlich an und kann besonders bei adipösen Schwangeren mit Typ-2-Diabetes extrem hoch sein, es können bis zu 5-fache Insulindosierungen notwendig sein. Mit Beginn der Geburt reduziert sich der basale Insulinbedarf um ca. 50 % (z. B. unter CSII). Unter der Geburt wird nur kurzwirksames Insulin, je nach lokalen Gepflogenheiten auch intravenös, verabreicht. Nach der Geburt wird die Insulinsubstitution innerhalb weniger Tage individuell neu angepasst, als Orientierung dient der Bedarf vor der Schwangerschaft.
Stoffwechselziele:
Vor der Schwangerschaft soll eine normnahe Stoffwechseleinstellung mit einem HbA1c <7 %
(besser <6,5 %) für mindestens drei Monate erzielt werden. Die Blutglukose-Zielwerte (kapillär mit dem Handmessgerät der Schwangeren gemessen) nach Eintritt der Schwangerschaft lauten:
Mittlere Blutglukosewerte (MBG) eines Tages, bestehend aus sechs Werten (vor den Hauptmahlzeiten und 1 Stunde danach), von
<85 mg/dl
deuten auf eine zu straffe Einstellung mit dem Risiko fetaler Wachstumsretardierung hin, MBG
>105 mg/dl
gelten als nicht ausreichend gut eingestellt. Die postprandialen Werte (ein oder zwei Stunden nach einer Mahlzeit) sind für die fetale Prognose bedeutsam, hiernach sind die nachfolgenden Insulindosierungen vor den Mahlzeiten anzupassen. Eine sofortige postprandiale Korrektur soll ab 200 mg/dl vorgenommen werden. Der HbA1c-Wert sollte alle 4–6 Wochen bestimmt werden und im Referenzbereich für Gesunde liegen. (Anm.: Auf unterschiedliche regionale Referenzbereiche der HbA1c-Methoden muss geachtet werden. Im Allgemeinen soll der HbA1c-Wert vor der Schwangerschaft nicht mehr als 0,5–1 % absolut oberhalb des oberen Referenz-Grenzwertes der verwendeten Labormethode liegen). Die Qualität der Blutglukose-Selbstmessung durch die Schwangere soll regelmäßig mit gerätespezifischen Kontroll-Lösungen überprüft werden.
Diabetologische Notfälle:
Schwere Hypoglykämien der Schwangeren mit Notwendigkeit einer Glukose- oder Glukagoninjektion müssen vermieden werden. Durch eine stabile, normnahe Einstellung können hypoglykämische Warnzeichen (z. B. Nervosität, Kopfschmerzen oder Heißhunger) zunehmend unterdrückt sein und schließlich durch unzureichende hormonelle Gegenregulation ganz fehlen. Der Partner oder ein anderer Angehöriger muss über Hypoglykämien informiert und in die Anwendung des Glukagon-Notfallsets
eingewiesen sein.
Folsäure und Jodid:Allen Schwangeren mit Kinderwunsch kann eine Nahrungsmittelergänzung mit 0,8 mg
Folsäure/Tag, beginnend mindestens 4 Wochen vor Eintritt der Schwangerschaft bis zum Abschluss von 12 Schwangerschaftswochen zur Vorbeugung von Neuralrohrfehlbildungen (Fehlbildungen des Zentralnervensystems) und Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltbildungen möglichst kombiniert mit folatreicher Ernährung empfohlen werden. Folatreich sind z. B. Blattgemüse wie Spinat und grüne Salate, Weißkohl, Brokkoli oder Blumenkohl. Wegen der gehäuften Koinzidenz von Diabetes, Schwangerschaft und Schilddrüsenerkrankungen und zur ausreichenden Versorgung des Feten mit Jod sind eine medikamentöse Jodprophylaxe mit mindestens 200 μg Jodid/Tag, jodreiche Nahrungsmittel (z. B. Meeresfisch, neuseeländische Kiwi und jodreiche Mineralwässer) und die Verwendung jodierten Speisesalzes zu empfehlen.
Humangenetische Beratung:Das Risiko der Kinder diabetischer Mütter, an einem Typ-1-Diabetes zu erkranken, liegt bei 0,8 % nach 5 Jahren (5,3 % nach 20 Jahren). Ist auch der Vater an Typ-1-Diabetes erkrankt, beträgt das 5-Jahres-Risiko 11 %, ist neben der Mutter auch ein Geschwisterkind erkrankt, liegt die Rate nach 5 Jahren bei 12 %. Das Risiko in der Allgemeinbevölkerung beträgt bis zum 25. Lebensjahr ca. 0,3 %.
Fehlgeburts- und Fehlbildungsrisiko:Das Risiko für Fehlgeburten ist erhöht und abhängig von der Stoffwechseleinstellung vor der Schwangerschaft. Chromosomenstörungen treten bei diabetischen Schwangerschaften nicht gehäuft auf. Ebenso abhängig von der Qualität der Stoffwechseleinstellung vor der Schwangerschaft ist das Risiko für Fehlbildungen, es liegt im Mittel rund 4-fach höher im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, bei ca. 8,8 %. Dies gilt für Typ-1- und Typ-2-Diabetes gleichermaßen. In geplanten Schwangerschaften ist das Fehlbildungsrisiko bedingt durch die gezielte Beratung, die bessere Stoffwechseleinstellung und Blutglukose-Selbstkontrollen geringer als in ungeplanten. Fehlbildungen betreffen vorwiegend das Herz und herznahe Gefäße (Risiko: 4-fach), Neuralrohrdefekte (Risiko: 2- bis 3-fach) sowie Kombinationen verschiedener Fehlbildungen. Ein diabetes-spezifischer Fehlbildungstyp existiert nicht. Das häufig genannte kaudale Regressionssyndrom (eine Fehlbildung des unteren Teils der Wirbelsäule, begleitet von einem sich abnorm entwickelnden Rückenmark) ist sehr selten, die Häufigkeit bei diabetischen Schwangerschaften beträgt 1,3/1000. Das Risiko für Fehlbildungen ist außerdem erhöht bei einer Adipositas, mikrovaskulären Komplikationen des Diabetes mellitus und unzureichender Nahrungsergänzung mit Folsäure bei der Schwangeren.
Häufige Komplikationen und Begleiterkrankungen:Das Risiko eines
Schwangerschaftsbluthochdrucks
und der sogenannten
Präeklampsie, eines Schwangerschaftsbluthochdrucks in Verbindung mit Eiweiß im Urin, liegt bei Frauen mit einem Diabetes mellitus im Vergleich zu stoffwechselgesunden Frauen deutlich höher.
Die diabetische
Retinopathie
ist die häufigste mikrovaskuläre Komplikation bei diabetischen Schwangeren und kann erstmals in der Schwangerschaft manifest werden. Es handelt sich um eine Erkrankung der Netzhaut des Auges. Bei fehlender Retinopathie sind vier augenärztliche Untersuchungen mit erweiterten Pupillen angezeigt, nämlich vor der Schwangerschaft, nach Diagnose der Schwangerschaft, um die 20.-24. sowie 34.-36. Schwangerschaftswoche. Bei bereits diagnostizierter Retinopathie oder Neumanifestation werden durch den Augenarzt individuelle Kontrollen vereinbart.
Als diabetische
Nephropathie
bezeichnet man eine Erkrankung der Nieren. Sie geht mit einem erhöhten Präeklampsie- und Frühgeburtenrisiko einher. Auch die Rate an Wachstumsretardierungen ist erhöht. Ein Screening auf Albuminurie, kleinste Eiweißbestandteile im Urin, sollte deshalb mehrfach erfolgen, ggf. gefolgt von einer Bestimmung des Kreatinin im Blut.
Bei diabetischen Frauen besteht ein erhöhtes Risiko für eine besondere Form der Schilddrüsenentzündung, die sogenannte
Hashimoto-Thyreoiditis, besonders wenn Sie über 30 Jahre alt sind.